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Gelesen. Talbot.

Cover des BuchesMary M. Talbot und Bryan Talbot: Dotter of Her Father’s Eyes. Milwaukie: Dark Horse, 2012.

Die Autorin verschränkt in dieser doppelten Biografie Erinnerungen an ihre eigene Kindheit und Jugend und die Lucia Joyce’, die – wie es in der Graphic Novel gezeigt wird – nicht glücklich gewesen sein kann, Tochter eines egozentrischen Autors und einer jegliche Unterstützung versagenden kalten Mutter zu sein, die sich offenbar einig darin waren, dass die Begabung und Lebensidee Lucias – das Tanzen – wertlos sei. Die Revolte gegen diese allein am literarischen Erfolg Joyce’ ausgerichtete Idee von Familienleben führte Lucia dann ins Sanatorium.

Bedrückend.

Gelesen. Reimann.

Cover des BuchesBrigitte Reimann: Ankunft im Alltag. Berlin: Aufbau Taschenbuch, 2023.

Drei Abiturientys bewähren sich in der Produktion: junge Frau zwischen zwei jungen Männern, drei junge Menschen suchen ihren Weg in der neuen Gesellschaft der DDR – hier beim Bau eines Braunkohleveredelungswerks just wie im VEB Gaskombinat Schwarze Pumpe.

Gelesen. Weidermann.

Cover des BuchesVolker Weidermann: Ostende. 1936, Sommer der Freundschaft. München: btb, 2015.

Stefan Zweig, Joseph Roth, Irmgard Keun und andere treten hier als Doku-Romanfiguren auf. – Scheint mir ein wenig zu sehr namedropping und zu wenig Literatur.

Suche ja noch ein wenig nach Begleitlektüre für Schülerinnen und Schüler zum neuen Deutsch-Korridorthema Exillyrik im kommenden Schuljahr …

Gelesen. Murray.

Cover des BuchesPaul Murray: Der Stich der Biene. Übertragen von Wolfgang Müller. München: Antje Kunstmann, 2024.

Der Roman beginnt mit zwei besten Freundinnen im letzten Schuljahr und führt nach & nach die anderen Figuren des Ensembles ihrer beiden Familien ein. Fast jede zunächst vermeintlich verlässliche Tatsache wird auf den nächsten insgesamt 700 Seiten durch Rückblicke in die Vorgeschichte in Frage gestellt: eigentlich ist es ganz anders gewesen!

Verfall einer Familie in der irischen Provinz (und ein bisschen in Dublin). Hat ein bisschen was vom großen amerikanischen Familienroman à la Franzen, ist aber europäischer, verständlicher, dabei allerdings keineswegs verträglicher: im Gegenteil. Das Ende ist ein zwar offenes, aber in jedem Fall düsteres.

Wissing und die Fahrverbote.

Die Tagesschau verheddert sich leider mit den Verben und schreibt, Wissing drohe im Streit um Klimaziele mit Wochenend-Fahrverboten. Schreiben hätte sie müssen: er verspricht Fahrverbote. Dann wäre nämlich klar, dass man in der nächsten Zeit erwarten darf, am Wochenende unbehelligt von Autos und Motorrädern die schönsten Wege der Umgebung zu Fuß und per Rad erkunden zu dürfen.

Insofern ein Appell an die Ampelkoalition: einigt Euch nicht anderweitig, zeigt dem für sein Amt vollkommen ungeeigneten Herrn Wissing auf, was er bislang falsch gemacht hat – von fehlenden Tempolimits über die Förderung falscher Verkehrsmittel bis hin zu Kürzung der Mittel für die richtigen – und gönnt uns ein paar autofreie Wochenenden!

Gelesen. Lederer.

Cover des BuchesJoe Lederer: Entführt in Schanghai. Reutlingen: Ensslin und Laiblin, 1958. (Erstausgabe 1938 unter dem Titel Fafan in China.)

Als ich letztens Der Page vom Dalmasse Hotel las, fiel im Nachwort auch der (mir bis dahin unbekannte) Name der Autorin Joe (eigentlich Josefine) Lederer, von der ich dann zwischendurch rasch ein Jugendbuch gefunden habe.

Fafan lebt als Kind einer schweizer Familie (der Vater arbeitet als Ingenieur) im französischen Teil Shanghais und lernt dort den gleichaltrigen Cheng kennen. Rasch entwickelt sich zwischen den beiden eine Freundschaft, die auf die Probe gestellt wird, als Cheng, um ein Lösegeld zu erpressen, entführt wird. Natürlich endet alles gut, natürlich bekommen die beiden Jungs Hilfe vom Rikscha-Kuli Lao Hu, den sie bei anderer Gelegenheit großzügig mit Geld bedachten, natürlich zeigt sich in dieser Probe die Möglichkeit und Notwendigkeit der Freundschaft über kulturelle Grenzen hinweg. Trotz dieser eindeutig humanistischen und völkerverbindenden Botschaft Lederers, die selbst eine Zeitlang in Shanghai lebte, sind viele Formulierungen und Sätze zu lesen, die man in einem entsprechenden Kinderbuch heute nicht mehr finden würde. Die Veränderung zeigt, dass wir in Bezug auf die Wortwahl empfindlicher geworden sind, vielleicht aber auch einen gelinden Fortschritt im Denken.

»KI«-Unfug.

Was Dirk Olbertz schreibt: »KI«-Texte sind langweilig, unzuverlässig und lohnen die Mühe des Lesens nicht.

Und ja, das ist ein prinzipielles Problem der LLM, das durch die jeweils nächste Version vielleicht besser verschleiert, aber nicht grundlegend geändert wird.

Gelesen. Peters.

Cover des BuchesChristoph Peters: Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln. München: Luchterhand, 2014.

Jan Kollwitz arbeitet als Keramiker in Cismar und schöpft dort in japanischer Tradition: seine Objekte brennt er hinter dem alten Pastorat des Dorfes in einem traditionellen Anagama-Ofen, in dem die unglasierten Oberflächen durch die Temperatur und den Holzbrand vollkommen eigene Strukturen und Muster erhalten, was ausschließlich Unikate entstehen lässt.

Die Geschichte des Künstlers (der im Buch natürlich anders heißt) und vor allem den Bau des Ofens durch einen japanischen Ofensetzermeister literarisiert Peters in Herr Yamashiro bevorzugt Kartoffeln. Dabei hat der Leser einige gewollt heitere Dorfschwank-Klischees zu ertragen, wird aber durch andere Momente, in denen Peters ernsthaft das Besondere dieser Kunst darstellt, entschädigt – beispielsweise wenn er die Lehrzeit des Protagonisten in Japan schildert oder das erste Anfeuern des neuen Ofens.

Gelesen. Schmidt.

Cover des BuchesJoachim B. Schmidt: Kalmann. Zürich: Diogenes, 2022.

Kalmann ist speziell und daher trotz seiner Profession als letzter Gammelhai-Hersteller des Ortes auch als Anfang Dreißiger zuweilen noch auf die Hilfe seiner Mutter angewiesen. Andererseits aber hat er einen Cowboyhut und einen Metallstern zum Anheften und ist daher der Sheriff von Raufarhöfn, einem Ort, der nicht nur geografisch sehr weit entfernt liegt von Reykjavík. Wenn in Kalmanns Dorf allerdings ein Mann verschwindet, kommt die Polizei aus der Stadt …

Twitter ist tot.

»Leute auf X sagen oft immer noch ›Twitter‹ zu dem Dienst und glauben Musk damit irgendwie zu ärgern, dabei ist das eher ein Teil ihrer eigenen Verdrängungsstrategie. Sie können nicht akzeptieren, dass Twitter aufgehört hat zu existieren und sie ihre Witzchen jetzt auf einer Nazipropagandawaffe veröffentlichen.« (Michael Seemann)

Gelesen. Reimann.

Cover des BuchesBrigitte Reimann: Katja. Erzählungen über Frauen. Berlin: Aufbau, 2024.

In diesen teilweise zuvor unveröffentlichten Erzählungen spürt man das Nachdenken und die tastende Selbstvergewisserung der Autorin: in der experimentierenden Haltung zur Gesellschaft, zum Staat, zum anderen in Beziehungen zwischen Menschen. Nie fehlerfrei, nicht unbeirrt, aber doch einen klar eigenen Weg einschlagend.

Gutes Nachwort vom Herausgeber Carsten Gansel.

Gelesen. Pratchett.

Cover des BuchesTerry Pratchett: A Stroke of the Pen. The Lost Stories. London: Doubleday, 2023.

Fingerübungen des noch unbekannten Pratchett, meist in der Western Daily Press pseudonym erstveröffentlicht, die doch hier und da den Humor des bekannteren Pratchett aufscheinen lassen. Noch spielen die Erzählungen nicht auf der Scheibenwelt, sondern, wie es Neil Gaiman im Vorwort ausdrückt, »set in here and now. Or at least the hereish and the nowish« (xiii), aber in der uns bekannten Welt geschehen Vorkommnisse, die die Protagonist*innen eine andere spüren lassen.

Gelesen: Peteani.

Cover des BuchesMaria Peteani: Der Page vom Dalmasse Hotel. Wien: Milena, 2024.

Friederike »Friedel« Bornemann findet in den 1920er Jahren keine Anstellung, sieht aber ihre Chance gekommen, als die Stelle eines Pagen im Dalmasse-Hotel ausgeschrieben wird. Sie wird gezwungenermaßen zum jungen Mann und sticht aufgrund ihrer im Hotel mit internationaler Kundschaft geschätzten Fremdsprachkenntnisse ihre Konkurrenten aus, sodass sie künftig als Page Numero 1 in männlicher Rolle ihren Dienst tut.

Unter den Gästen ist einer, der ihr gefällt, der jedoch bereits von einer jungen amerikanischen Bergwerkserbin mit Heiratsabsichten bezirzt wird. Friedel entdeckt aufgrund herausragender Beobachtungsgabe, dass diese offenbar nicht nur Geheimnisse, sondern auch böse Absichten hat …

Wer bis hierhin liest, weiß, dass alles ein glückliches Ende nimmt – bis dahin ist die Sache aber sehr unterhaltsam mit den üblichen dunklen Unterströmungen der Neuen Sachlichkeit, die die Probleme der Zeit zu benennen nicht scheut.

Maria Peteani selbst war mir trotz siebzehn Romanen, die sie zwischen 1920 und ihrem Publikationsverbot 1940 schrieb, bislang ebenso wenig bekannt wie der Wiener Milena-Verlag, gehört aber offenbar zu den in der Weimarer Republik durchaus populären Autorinnen. (Neben der bekannten Vicki Baum sind weitere zu merkende Namen laut Nachwort von Peter Zimmermann Anna Elisabeth Weirauch, Annemarie Selinko, Joe Lederer, Gina Kraus.)

Gelesen: Müllensiefen.

Cover des BuchesDomenico Müllensiefen: Aus unseren Feuern. Berlin: Kanon, 2023.

Thomas, Karsten und Heiko erleben in und rund um Leipzig gemeinsam die ersten Jahre der wiedervereinigten BRD – mit all den für sie nie geltenden Versprechungen auf blühende Landschaften.

Der Klappentext fabuliert unter anderem über die Protagonisten: »Sie sind die Witzfiguren und die Arbeitstiere unserer Gesellschaft« – letzteres mag stimmen, ersteres lässt Müllensiefen auch im Scheitern seiner Helden nie zu, sondern bleibt ihnen so zärtlich zugeneigt wie sie untereinander.

Starkes Buch mit eigenem Ton und überzeugenden Figuren, in das der Autor vermutlich so viel von sich selbst gelegt hat, dass das nächste nur weniger echt sein kann.